Artikel 2 EPÜ und seine Auslegung
ARTIKEL 2 EPÜ UND SEINE AUSLEGUNG
Artikel 2
Europäisches Patent
(1) Die nach diesem Übereinkommen erteilten Patente werden als europäische Patente bezeichnet.
(2) Das europäische Patent hat in jedem Vertragsstaat, für den es erteilt worden ist, dieselbe Wirkung und unterliegt denselben Vorschriften wie ein in diesem Staat erteiltes nationales Patent, soweit dieses Übereinkommen nichts anderes bestimmt.
Nichts vom „Zerfallen in nationale Patente“ zu lesen. Nichts von einem "Zerfallprozess". Auch nichts vom „Bündel einzelner nationaler Patente“ (sog. „Bündelpatent“), ganz zu schweigen von „Teilen eines europäischen Patentes“ (Anteil oder nationaler Teil). Die nach dem EPÜ/EPC/CBE erteilten Patente heißen – auf Lebenszeit – „europäische Patente“. Und sie wirken in jedem Vertragsstaat, in dem das europäische Patent unter Art. 65 und dem Londoner Übereinkommen seit 2008 „validiert“ wurde. Ohne Validierung endet die Wirkung in dem betroffenen EPÜ-Staat (void ab initio). Ein Blick in zugehörige Fundstellen im Netz zeigt ein seltsames Bild ...
Auf der EPA-Website, genauer gesagt unter dem EPA-Link „Der Weg zum europäischen Patent", Ziffer 7 ist Folgendes zu lesen ...
Beschließt die Prüfungsabteilung, dass ein Patent erteilt werden kann, so erlässt sie eine entsprechende Entscheidung. Sobald die Übersetzungen der Ansprüche eingereicht und die Erteilungs- und Veröffentlichungsgebühr entrichtet sind, wird im Europäischen Patentblatt ein Hinweis auf die Erteilung bekannt gemacht. Die Entscheidung über die Erteilung wird am Tag der Bekanntmachung wirksam.
Das erteilte europäische Patent ist wie ein „Bündel“ einzelner nationaler Patente.
Die letzte Aktualisierung dieses Textes fand am 29. Mai 2013 statt.
Das Deutsche Patent- und Markenamt (DPMA) bestätigt in dieser Hinsicht die Auslegung des Europäischen Patentamtes (EPA). In der Broschüre „Eine Informationsbroschüre zum Patentschutz“ auf Seite 26 unter „Die europäische Patentanmeldung“ ist unter anderem zu lesen ...
Bei Patenterteilung entsteht ein „Bündelpatent“, das anschließend in einzelne nationale Patente zerfällt. Ein europäisches Patent hat in jedem Vertragsstaat, für den es erteilt worden ist, dieselbe Wirkung und unterliegt denselben Vorschriften wie ein in diesem Staat erteiltes nationales Patent. Seine Verwaltung obliegt bis zum Ablauf der Schutzdauer den nationalen Patentämtern.
Der mittlere Satz stimmt, er ist aus Art. 2 EPÜ entnommen, aber vorne und hinten passt es nicht. Genauer betrachtet fehlt auch dem Zentralsatz die relevante Anfügung „soweit das EPÜ nichts anderes bestimmt“. Und das EPÜ bestimmt einiges, so Art. 2 oder Art. 69 Abs. 2 oder Art. 70. Auch und ganz wesentlich sind Art. 83, 54, 56 und Art. 63, die nicht von §§ 3, 4, 34 Abs. 3 Nr. 3 und Abs. 4 oder PatG § 20 ersetzt werden, sondern „for the lifetime of the European patent“ in allen validierten Vertragsstaaten als europäische Normen weiter gelten.
„Guidance Protecting your patent abroad“ des nationalen GB-Patentamts erläutert unter „European patent protection“ Folgendes ...
Your application will be processed as a single application, but once granted it becomes separate patents in the countries you designate.
Die letzte Aktualisierung dieses Leitfadens wurde am 18. November 2014 durchgeführt.
Das Spanische Patent- und Markenamt platziert auf seiner Website folgende Zeilen:
Once granted, the European patent has the same effect in each of the countries for which it is granted as a national patent subject to the legislation of the respective country.
Nicht ganz richtig ... Eigentlich grundsätzlich unrichtig, wenn "granted as a national patent" zusammen gelesen wird.
Das „Fachwissen“ Schlagwein (Stand: 30. März 2014) führt unter der Rubrik „Nichtigkeitsverfahren“ auf Seiten 96 und 197 Folgendes aus ...
Nichtigkeitsklage kann gegen erteilte deutsche Patente oder den deutschen Teil eines europäischen Patentes nach Ablauf der Einspruchsfrist (9 Monate) oder nach Abschluss eines eventuellen Einspruchsverfahrens gemäß § 81 PatG gegen den im Register als Patentinhaber Eingetragenen beim Bundespatentgericht schriftlich eingereicht werden.
...
Solange die Einspruchsfrist gegen die Erteilung des europäischen Patentes nicht abgelaufen ist oder ein Einspruchs- oder Einspruchsbeschwerdeverfahren läuft, sind die nationalen Teile eines europäischen Patentes von dem erteilten Patent abhängig. Wird das Patent widerrufen, dann gehen alle nationalen Teile mit unter.
Auch dieses Kompendium dient Auszubildenden als Orientierung und Hilfestellung.
Auszüge aus dem Kommentar zum „Europäisches Patentübereinkommen“ von Singer und Stauder, 4. Auflage, Seiten 15 und 16, Rdn. 2 bis 4 verraten neugierigen Lesern einiges über den „europäischen Charakter“...
Nach Abs. 1 heißen die nach dem EPÜ erteilten Patente europäische Patente. In der Bezeichnung ist, ohne dass dies im Text vollständig zum Ausdruck kommt, eine echte Begriffsbestimmung enthalten. Die Auffassung, dass das europäische Patent nach seiner Erteilung in ein Bündel nationaler Patente in den benannten Vertragsstaaten zerfällt, mag anschaulich erscheinen, ist aber rechtlich und systematisch unrichtig.
Das europäische Patent entsteht mit seiner Erteilung als ein Bündel europäischer Patente (bundle of European patents, faisceau de brevets européens), sofern mehr als ein Vertragsstaat benannt ist, und bleibt dies auch.
...
Der Wortlaut von Abs. 2 bestätigt, genau gelesen, den europäischen Charakter des europäischen Patents: Das europäische Patent hat dieselbe Wirkung und unterliegt denselben Vorschriften wie ein in diesem Staat erteiltes nationales Patent; es ist aber nicht mit einem nationalen Patent identisch. Der angefügte Nebensatz ist im eigentlichen Sinne die Hauptregel, denn aus dem Übereinkommen ergibt sich eine sehr starke eigenständige europäische Rechtsregelung des europäischen Patents.
Passagen aus dem Kommentar zum „Europäisches Patentübereinkommen“, Benkard, 2. Auflage, Seite 84, Ziffer II, Rdn. 3 erteilen der Teile- oder Zerfallstheorie eine brillante Absage ...
Von den nationalen Schutzrechten, die von den Patentämtern der Vertragsstaaten erteilt werden, unterscheidet sich das europäische Patent vor allem durch das gemeinsame Erteilungsverfahren, also die erste „europäische“ Phase. Europäische Patente werden in einem eigenständigen europäischen Verfahren erteilt; die materiellen und formellen Patentierungsvoraussetzungen sind autonom im EPÜ geregelt.
Aber auch nach bestandskräftiger Erteilung unterscheiden sich europäische Patente von nationalen Schutzrechten. Ihre europäische Prägung bleibt bestehen (Singer/Stauder, Art. 2 Rdn. 6). Ein etwa für drei EPÜ-Vertragsstaaten erteiltes Patent zerfällt nicht in drei nationale Patente, sondern bleibt ein für diese Staaten erteiltes europäisches Patent.
Es ist daher nicht zutreffend, ein in Deutschland wirksames europäisches Patent als dessen „deutschen Teil“ zu bezeichnen.
Wir bilden Menschen aus, wir vermitteln Wissen, wir übernehmen Verantwortung ... Patentämter liefern nicht selten unglücklich ausgelegtes Wissen – wie in diesem Fall. An solchen amtlichen Publikationen orientieren sich Berufsschulen und ausbildende Patentanwaltskanzleien. Es scheint wie eingebrannt: Zerfall, Wandel in nationale Patente, nationale Teile, ohne dass man sich an der anschaulichen und zwingenden Logik des Art. 2 EPÜ orientieren würde, dass es europäische Patente bleiben, mit Wirkung für beispielsweise DE oder GB oder TR.
Kurz gesagt, EP für DE oder EP für FR – und nicht der nationale DE-Teil des europäischen Patents.
Viele oben genannte Quellen zum europäischen Patent informieren, dass das europäische Patent nach seiner Erteilung in ein Bündel, insbesondere nationaler Patente zerfällt. Dies ist eine unglückliche Auslegung des Art. 2 EPÜ. Benkard, EPÜ, a. a. O., ist die einzige Fundstelle, aus der die klare Unrichtigkeit dieser Teile- oder Zerfallstheorie hervorgeht.
Das Europäische Patentamt erteilt im Anschluss an ein zentrales Prüfungsverfahren ein europäisches Patent. Dieses europäische Patent bleibt auch nach der Validierung in den gewünschten Staaten als ein europäisches Patent bestehen, vgl. Art. 65 EPÜ. Es "zerfällt" nicht und ist kein Bündel, sondern behält in den Ländern, in denen es validiert worden ist, seine Wirkung als europäisches Patent. Nur seine Wirkung ist die gleiche, als wären nationale Patente erteilt worden, Art. 64(1) EPÜ, und doch ist und bleibt das erteilte Patent ein europäisches Patent und übernimmt zahlreiche Vorschriften aus dem EPÜ auf Dauer auch in eine sog. „nationale Verwaltungsphase“.
Die deutschen Nichtigkeitssenate haben mit den zerfallenen deutschen Teilen der europäischen Patente zu tun, laufend, seitdem die Einspruchsfrist des ersten erteilten EP-Patents ablief. Aber sie, alle sechs Senate, erklären keine Teile oder nationale Patente nichtig oder teilnichtig – nein – sie erklären europäische Patente mit Wirkung für Deutschland, vor 1990 noch mit Wirkung für das Bundesgebiet (nicht DDR oder GDR), nichtig; dies unter Nennung des europäischen Patents (Art. 2 EPÜ) und des deutschen Aktenzeichens, unter dem die Wirkung für Deutschland beim Deutschen Patent- und Markenamt für Jahresgebühren und Umschreibung verwaltet wird. National also hinsichtlich der Höhe der deutschen Jahresgebühren, jedenfalls nicht hinsichtlich des europäischen Art. 69 Abs. 2 und des Art. 52 EPÜ.
Beispiele der „Tenöre der sechs Senate“ sind unten zu sehen.
Sechs Entscheidungen des Patentgerichts
Dabei wäre es so einfach. Das europäische Patent für DE, für GB, für TR oder für die EU. Das ist die innere Logik des Art. 2 EPÜ, das Patent „bleibt zusammen“, nur die Wirkung wird mit dem Unitary Patent (auf Antrag) für die EU (im Idealfall, wenn ES, PL, IT und HR sich noch der verstärkten Zusammenarbeit zuwenden) „gebündelt“. Diese Wirkung auf alle EU-Staaten wird zu einem Common Effect oder einer einheitlichen Wirkung in einer Region.
Das Unitary Patent (UP) kittet also keine zerfallenen EP-Patente oder deren nationale Teile oder Anteile. Das leistet auch das Einspruchs- oder Beschränkungsverfahren des EPÜ nicht. Sie betreffen die europäischen Patente als solche und auch nach dem Einspruchsverfahren findet der Zerfall nicht statt. Es bleibt beim Art. 2 EPÜ. Kein Zerfall, kein Bündel nationaler Patente und keine Anteile oder Teile von europäischen Patenten.
Wir wagen eine These. Seit 1978 ist noch kein erteiltes europäisches Patent zerfallen oder sein Bündel in nationale Patente aufgelöst worden. Wir sind bereit, Antithesen entgegenzunehmen, um Synthesen zu bilden. Besonders heute, wenn das Unitary Patent eine Erklärung benötigt, warum es den Zerfallprozess nicht gibt und nie gab. Das UP lebt davon, dass es den Zerfall in Teile nie gab und baut seinen Common Effect (einheitliche Wirkung) darauf auf. Well done - möchte man sagen – die Gestalter des UP haben Art. 2 sehr wohl zutreffend ausgelegt und angewendet.
Mit dem kommenden UP als EP (having common effect) sollten die Bündeltheorie, die nationalen Teile und der Zerfallprozess endgültig zu Grabe getragen werden. Es hat sie nie gegeben und sie werden auch nicht gebraucht, nicht einmal zur „anschaulichen Erklärung“.
Stand: 13. März 2015